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Rot - Lesung "Wunder der Farben"

Aktualisiert: 8. Juni 2024

Rot war ganz blass. Es konnte nicht mehr. Man sagte ihm nach, eine kraftvolle Farbe zu sein. Rot wurde als feurig oder auch energetisierend wahrgenommen, manchmal empfand man es sogar als aufpeitschend oder brutal. Doch eines Tages fühlte sich Rot überhaupt nicht mehr stark. Es war ausgelaugt und müde. So viele unterschiedliche Eigenschaften wurden von ihm erwartet, viele davon reine Gegensätze. Rot – das verbanden viele Menschen mit der Liebe. Ein wärmendes und tröstendes Symbol, wie eine warme Kuscheldecke voll tief greifender Bedeutung für alle Liebenden. Ein rotes Herz bezeugte so oft die Liebe zweier Menschen. Welch wohlig-wonniges Gefühl. Wärmend wie das Feuer in einem Kamin, das knisternd so manch erotisches Ineinander bezeugen hätte können.

Doch die Hitze der feurigen Glut konnte auch verbrennen. Schmal war der Grat zwischen dem Wohlgefühl der warmen und romantischen Lichterspiele eines Kaminfeuers und dem brennend heißen Schmerz, den die spritzende Glut wild gewordener Flammenzünglein entfachen konnte. Dann wurde Rot zur schmerzhaften Erfahrung. Verursachte Verbrennungen, verletzte. Zwei Seiten einer einzigen Farbe. Einer Farbe, die nun eine Identitätskrise durchlebte. „Wer bin ich eigentlich?“, fragte sich Rot verzweifelt. “Energiespender oder Energieräuber? Liebe oder Hass? Leben oder Tod? Und wieso trage ich so viel Schlechtes in mir?“

Es hieß, Rot wirke bedrohlich und würde Zorn und Kampfeslust schüren. So wurde dem römischen Kriegsgott die Farbe Rot geweiht, die Tapferkeit im Kampf symbolisierte. Weltweit bemalten sich Krieger rot, um ihre Gegner einzuschüchtern, und aus ähnlichem Grund waren viele Uniformen in Rot gehalten. Selbst dem Stierkampf hatten die Menschen ein rotes Tuch verpasst und es damit einmal mehr zur aggressiv machenden Farbe deklariert. „Wenn ich so gefährlich bin“, dachte Rot, „und Menschen brutal und kriegerisch werden lasse, dann wäre es besser, es würde mich gar nicht geben. Denn wie friedvoll wäre die Welt ohne Zorn und Aggression?!“ So fasste Rot in seiner Verzweiflung den Entschluss, sich von allem zurückzuziehen.


Damit veränderte sich das Erscheinungsbild der Welt radikal. Die Menschen verblassten in ihrer Erscheinung. Keine roten Lippen animierten mehr dazu, geküsst zu werden. Wie blutleer begegneten sich die Personen, zeigten weder Schames- noch Zornesröte. Sonnenuntergänge blieben einfarbig und versanken ohne ergreifendes Farbspiel am Horizont. Rosen konnten nur noch in hellem Gelb oder weiß gepflückt werden. Und überall fehlte der gewisse Farbtupfer, der sich aus dem nur noch blau-gelb dominierten Farbenspiel abhob.


Während sich Rot eines regnerischen Tages so in seiner Einsamkeit grämte, erschien ihm ein Regenbogen. Ein Regenbogen, dessen äußerstes Band kein Rot erblühen ließ. „Hallo Rot“, grüßte er freundlich und fragte direkt: „Was grämst du dich so, dass du dich von der ganzen Welt zurück gezogen hast?“

Da schüttete Rot dem Regenbogen sein Herz aus. „Ich bin zu schlecht für die Welt. Viele verschie­dene Dinge scheine ich zu sein. Manche davon gut, aber manche davon auch böse. Ich stehe für die Liebe, doch auch für den Hass. Ich soll wärmen, doch verbrenne auch. Man sagt, ich stehe für Leidenschaft, doch gleichzeitig sei ich brutal. Als Farbe des Blutes stehe ich für Leben, doch auch für Verwundung, Schmerz und Tod. Wie kann ich so viel Gegen­sätzli­ches zur gleichen Zeit sein? Ich finde mich selbst nicht mehr. Bin ich nun das eine oder das andere? Das macht mich krank.“

„Hm“, erwiderte der Regenbogen nachdenklich. „Schau dich mal um. Keine der existierenden Farben erscheint nur eindimensional und vertritt nur genau eine Seite. Betrachten wir zum Beispiel Gelb. Gelb steht für Sonnenlicht und damit für Lebensfreude und Optimismus. Doch gleichzeitig repräsentiert Gelb den Neid und die Missgunst.

Grün steht für Hoffnung, für Erlaubtes, für Leben und für Wachstum. Aber ebenso für Ärger und auch Gift, das Leben bekanntlich auslöschen kann.

Oder nehmen wir Blau: Blau wird mit Weite und Freiheit assoziiert, aber gleichzeitig auch mit Isolation und Intoleranz. Es wird oft als Symbol für das Göttliche und für Treue verstanden. Doch ebenso steht Blau für Lüge und Unwahrheiten, was sich in Floskeln wie ‚blau machen‘ und das ‚Blaue vom Himmel herunter lügen‘ manifestiert. Man sagt ihm nach, dass es beruhigend und ausgleichend sei, es steht aber dennoch auch für Melancholie und Depression. Diese Gegensätzlichkeiten finden sich bei allen Farben wieder, wenn man genau hinsieht. Keine steht ganz klar nur für eine Seite, sondern vereint in sich jeweils auch eine gegensätzliche Eigenschaft.“

Rot war überrascht. Das war ihm so noch gar nicht aufgefallen. Es stand also gar nicht so alleine da mit seiner Widersprüchlichkeit. „Doch wie gehen nur die anderen mit dieser Inkonsistenz in sich um? Bemerken sie sie überhaupt?“, fragte sich Rot und begann, das Gesagte zu reflektieren.

„Lieber Regenbogen“, erwiderte Rot nach einigem Grübeln, „das war eine recht aufschlussreiche Schilderung. Doch in meinem Fall trage ich besonders schlimme Eigenschaften in mir:

Ich schüre Hass und Zorn und bin Symbol für Krieg und Zerstörung. Das macht mich gefährlich und schlecht. Daher ist es auch besser, wenn mich niemand sieht und ich mich von der Welt fern halte.“

Der Regenbogen betrachtete Rot mitfühlend. Mit sanfter Stimme antwortete er: „Du bist nicht verantwortlich für das, was jemand anderes in dir sieht oder in dich hineininterpretiert. Du bietest eine Bandbreite von Farbnuancen und Emotionen an. Keine davon ist per se gut oder schlecht. Wenn man in solchen Kategorien überhaupt sprechen kann, dann ist es das, was andere daraus machen.“ Der Regenbogen machte eine kurze Pause, dann fuhr er fort: „Rot als Farbe des Blutes, das kann man als Symbol für das Leben nutzen. Oder aber zum Bild des Blutvergießens machen. Man kann in Rot die Farbe der Liebe sehen oder aber die des Teufels. In allen Fällen ist es eine Entscheidung des Betrachters und nicht deine eigene Identität.“

Rot war durcheinander. So hatte es das noch nie betrachtet. „Du meinst“, erwiderte es dem Regenbo­gen, „dass die Interpretation von meiner Wirkung eher etwas über mein Gegenüber aussagt, als über mich selbst? Und dass ich selbst all das gar nicht unbedingt bin?“

„Ganz genau so kann man das sehen“ antwortete der Regenbogen mit einem farbigen Lächeln. “Übrigens“, ergänzte er, „Stiere können nur ein blau-grünes Farbspektrum wahrnehmen und dich daher gar nicht von anderen Farben unterscheiden. Es kann also gar nicht speziell an dir liegen, wenn sie aufgepeitscht auf ein rotes Tuch zustürmen.“

Rot spürte, wie sich etwas, das seit langem sein Herz eingeschnürt gehabt hatte, zu lockern begann und sich ganz langsam ein befreiendes Gefühl in ihm breit machte.

„Bedenke noch etwas:“, setzte der Regenbogen nach, „wenn du dich von der Welt zurück ziehst, nimmst du auch all denjenigen Menschen, die in dir die Liebe, Wärme oder Kraft sehen wollen, ihre Interpretationen und damit verbundenen Reaktionen.“

Nun war Rot gänzlich sprachlos. Diese Konsequenz seines Verschwindens hatte es so noch gar nicht betrachtet.


„Ich denke, ich lasse dich nun besser allein“, verabschiedete sich der Regenbogen, „damit du über meine Worte in Ruhe nachdenken kannst.“ So verließ er Rot gerade vor Einbruch der Dämmerung.

Und während der Regenbogen langsam durchsichtiger wurde, erspähte er am Horizont bereits den leichten Schimmer einer zarten Abendröte.


© Michaela Reisner, 2020

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